2020

ZEHN ANZEICHEN, DASS DU NICHT TOT BIST, ABER ALT

Damit haben beide irgendwie recht denkst du. Du nippst an der Flasche Genever. Es ist eine angenehm warme Nacht und so langsam setzt die Wirkung ein.

Anzeichen I: Du kommst zu dir. Zu deiner eigenen Verwunderung – und der aller Anwesenden – kommst du zu dir. Erleichtert stellst du fest, dass du nicht wirklich tot, sondern nur sehr müde und sehr betrunken warst. Du hattest gehofft dreißig werden fühle sich wie eine Wiedergeburt an. Stattdessen fühlst du dich einfach nur schlecht. Als du mühsam versuchst deinen Blick zu fokussieren, um dir ein Bild über Ausmaß des Schadens zu verschaffen, den deine Freunde in deinem Garten angerichtet haben, stürzt sich ein Sonnenstrahl wie eine lodernde Wunderkerze in dein halb geöffnetes Auge. Im gleichen Moment wünscht du dir, dass du tot wärst.
Ein beachtlicher Schmerz durchfährt deinen Schädel.
Ein Schmerz als würdest du dich an einem Blatt Papier schneiden;
Zwischen den Fingern; Und zu allem Überfluss hättest du zwischen den Fingern Augen.

Anzeichen II: Du wirst ohnmächtig Der Schmerz fährt durch deinen entkräfteten Körper. Du musst weinen und brechen und wirst ohnmächtig. Um dich herum wird aufgeräumt. Freunde in schönen Kleidern sind zum helfen gekommen. Direkt nach dem Yoga. Der Sonntag zieht eiligen Schrittes an dir vorbei, du wachst immer wieder auf, versuchst dich aus dem Gartenschlauch zu befreien in welchen wir dich eingewickelt haben. Nicht, dass dies nicht möglich wäre, immerhin ist es nur ein Gartenschlauch, eine bewältigbare Herausforderung, doch wie so häufig in deinem Leben fehlt dir der Antrieb, die Energie und die notwendige Motivation. Deine Erfahrung hat dich gelehrt, dass schon irgendwann jemand auftauchen und dich an die Hand nehmen wird, du wartest auf Hilfe, verzweifelst, versuchst dich erneut zu befreien, versagst. Wieder einmal kommt niemand, deine Erfahrung entpuppt sich als Wunschvorstellung, die sich angenehm um deine schmerzlichen Erinnerungen gesponnen hat.

Anzeichen III: Du musst weinen Du weinst. Insekten lassen sich auf deinem Körper nieder, spazieren eine Weile auf deiner faltigen Haut, trinken von deinen Tränen und fliegen weiter. Ein kleiner grauer Vogel beobachtet dich eine Zeit lang aus sicherer Entfernung, sieht aus als würde er überlegen, ob er aus deiner Kleidung, oder was davon übrig ist, ein Nest bauen soll. Du bittest ihn Hilfe zu holen, doch er reagiert nicht; als er davon fliegt siehst du, dass er winzige Earpods trägt. Du verfluchst ihn. Die Wut auf Menschen mit Anderen Lebensentwürfen und Vögel mit Earpods gibt dir Antrieb.

Anzeichen IV: Du hast Durst Sommer in Kiel. Zum Glück regnet es zu dieser Jahreszeit häufiger. Mit deiner Zunge versuchst du einzelne Regentropfen einzufangen oder wenigstens vom Boden aufzulesen bevor sie im Sand versickern. Du hattest dir geschworen nie wieder Genever zu trinken. Als du, wie eine Gartenschlauchraupe auf der Suche nach Nektar, durch den Garten robbend, auf eine halb-ausgetrunkene Flasche rotes Gold stößt, wirfst du die guten Vorsätze über Board und setzt zu einem tiefen Schluck an.

Anzeichen V: Du belügst dich selbst Du siehst darüber hinweg, dass Zigarettenenden in der Flasche schwimmen. Wer so viel geraucht hat, wie du gestern Abend, dem kann eine Zigaretten-Genever-Bowle nicht schaden. Du reißt den „Endlich Nichtraucher“-Anstecker von deiner Jack Wolfskin Weste. Die süße Frucht des Selbstbetrugs macht dich unbesiegbar. Dich überkommt ein Gefühl der Euphorie. Ein Gefühl wie nach dem ersten Besuch im Fitnesscenter, nach der ersten Joggingrunde, nach der ersten Italienischstunde. Wütend über die Gesellschaft und Gestärkt durch Zucker, Alkohol und Selbstbetrug befreist du dich aus dem Gartenschlauch. Du gießt die Beete, gräbst um, mähst rasen und beendest endlich dein Studium. Aber erst einmal brauchst du eine Pause. Dich aus dem Gartenschlauch freizukämpfen war anstrengend genug – du hast dir etwas Erholung verdient. Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag erbaut, denkst du und verschiebst auf später. Dann aber wirklich.

Anzeichen VI: Du sprichst mit einem Vogel Der kleine graue Vogel ist wieder da und sagt Dinge wie: Das sollten wir viel häufiger machen, ab jetzt gehe ich jede Woche trainieren, seit ich nicht mehr rauche fühle ich mich viel gesünder und auch vegan Grillen kann Spaß machen. Du versuchst den Vogel zu verscheuchen, wedelst mit Armen und Beinen, drehst dich, schlägst um dich, schreist und erinnerst dich verdächtig an dich beim Tanzen gestern Nacht. Warum du nie wieder im FitX warst fragt dich der Vogel. Warum du aber immer noch Mitgliedsbeitrag bezahlst. Warum das kostenlose Probeabo der FAZ seit zwei Jahren nicht mehr kostenlos ist, warum ihr euch nie beim Joggen begegnet und ob du wüsstest, dass der Italienischkurs der Volkshochschule nach der ersten Sitzung mangels Teilnehmern abgebrochen wurde.

Anzeichen VII: Du gehst auf eine Party Allen Widrigkeiten zum Trotz hast du beschlossen auszugehen. Du kommst auf einer Party an. Du  verfolgst einen Lebensentwurf in dem Aufstehen ein Tagesziel ist und so gesehen hast du es heute schon weit gebracht, denkst du als du an der rostigen Gartenpforte stehst und auf das Elend blickst.  Es ist später geworden als geplant, trotzdem bist du einer der ersten Gäste. Du hast lange vor dem Spiegel geübt cool auszusehen, doch weder siehst du cool aus, noch weißt du was cool ist. Du warst lange nicht mehr aus. Zu viel Business, zu wenig Zeit. Außerdem haben jetzt alle Kinder und auch deine Freunde ohne Kinder haben eine Interessenverlagerung von Saufen zu Brettspielabend bis zusammen Kochen vollzogen. Nur du bist auf der Strecke geblieben. Die Flasche in deiner Hand gibt dir Sicherheit, die Drogen in deiner Tasche stimmen dich zuversichtlich. Du bist nicht einer der ersten Gäste. Sie waren nur zum Grillen da. Manche auch schon zum Brunch. Die meisten schon weg.  Morgen wieder früh raus. Der Babysitter ist nur bis elf da. Er kann noch fahren, sie hatte auch schon zwei Sekt. Abgabe ist am Mittwoch und morgen kommen die Eltern zu Besuch. Sie haben süße kleine Pflanzen als Gastgeschenk mitgebracht, die sie in witzigen Joghurtbechern vorgezogen haben. Auf ihren Fensterbänken. In ihren Pärchenwohnungen. Sie dachten ja erst als Gastgeschenk Brot und Salz, aber… du entschuldigst dich und gehst kotzen.

Anzeichen VIII: Du tanzt Du bist ein menschgewordener Feuerpoi, der an der viel zu kurzen Kette der gesellschaftlichen Konventionen zerrt und seine schnellen Kreise über die Tanzfläche zieht. Der Hochprozentige ist dein Treibstoff. Du sprühst Funken. Kurze Gespräche mit Freundschaften aus drei Jahrzehnten. Wir liegen uns in den Armen, singen, gehen auseinander. Für Unterhaltungen ist es zu laut für eine unverfängliche Sommerromanze der falsche Ort. Hier kennt man sich. Willkommen auf einer beliebigen Party in Kiel. Das Schützenfest der Alten und Verwahrlosten, der Karneval der Waldschrate. Immer unter den Argusaugen der glücklichen Pärchen. Was wir jetzt mit der Lastwagenladung Boonekamp vorhaben fragt einer der Sicherheitskräfte. Warum hier überhaupt Sicherheitskräfte sind fragst du zurück und drängst dich an ihm vorbei, nicht mehr ganz sicher, ob das nicht der Gastgeber war. In deinen glasigen Augen spiegelt sich das Licht der Wunderkerzen. Irgendwo sind jemand Happy Birthday.
Am Lagerfeuer spielt jemand Forever Young.

Anzeichen IX: Du hast Angst deine Eltern könnten dich so sehen Gemeinsam sitzen wir am Lagerfeuer. Er fragt dich, ob dein zehnjähriges Ich zufrieden wäre, wenn es dich heute so sehen könnte. Du fragst ihn, ob seine Eltern stolz auf ihn sind. Keiner Antwortet und ihr starrt ins Feuer. Bis in die frühen Morgenstunden bewacht ihr ohne ein Wort zu wechseln die Glut. Als das Feuer runter gebrannt war, habt ihr nachgelegt, als das liebevoll vorbereite Holz aufgebraucht war, habt ihr angefangen Gartenstühle und Gartenhauseinrichtung zu verbrennen. Man hätte auch im Wald Holz suchen gehen können, aber der Wald war euch zu dunkel und gruselig und außerdem hätte man aufstehen müssen. So sitzt ihr als Sinnbild unserer Gesellschaft im schwarzen Rauch der brennenden Autoreifen. Der Frühnebel drückt auf die Stimmung und bei dem Gedanken daran, dass deine Eltern dich jetzt so sehen könnten beginnst du hysterisch zu lachen. Jemand bewirft dich mit Sand, es brennt in deinen Augen, dazu der beißende Qualm. Du bist mit dem Gesicht voran in einen Erdhaufen gestürzt.

Anzeichen X: Du lässt dich nicht aus der Fassung bringen Hätte dir jemand am Anfang des Abends prophezeit, dass du dir ein trauriges Smiley tätowieren lässt, hättest du ihn verspottet. Er holt die Nadel und die Tinte aus seinem Rucksack und beginnt mit der Arbeit. Es tut fast gar nicht weh, aber du weinst trotzdem. Der kleine graue Vogel sitzt auf deiner Schulter und putzt sich sein Gefieder. Es regnet leicht und du stellst dich unter einen kleinen Pavillon, unter welchem ein Pärchen leidenschaftlich über Hygienevorschriften diskutiert. Du versucht an ihr Gespräch anzuknüpfen, holst immer wieder aus, erzählst von Früher und wie man alles eigentlich hätte ganz anders machen müssen. Sie versuchen dich aus ihrem Gespräch rauzuhalten, wechseln das Thema. Gehen. Doch du bleibst ihnen auf den Versen. Du weißt nicht mehr seit wann der Zigarettenfilter an deinen spröden Lippen klebt. Du hast längst aufgegeben diese Zigarette heute noch fertig zu drehen. Du fragst das Pärchen erneut nach einer Filterzigarette. Das ist deine Chance auf menschlichen Kontakt und wenn schon keine Romanze dann wenigstens neue Freunde. Du möchtest auch mal wieder eine Party veranstalten erzählst du und hoffst, dass sie den Wink verstehen. Du berichtest, dass du gerade noch an deinem Manifest arbeitest und sie es als Erste lesen dürfen, sobald es Fertig ist, versteht sich. Du lädst sie zu einem rauschenden Fest ein und versprichst, auch aus dem Manifest vorzulesen.
Was sie denn davon halten würden.
Dann denken alle du wärst Künstler sagt er.
Oder völlig verrückt sagt sie.
Damit haben beide irgendwie recht denkst du.
Du nippst an der Flasche Genever.